Yoga kann dir helfen, den Mut aufzubauen, verletzlich zu sein
Mut und Verletzlichkeit - das hört sich konträr an. In meinen letzten Yoga Retreats ist mir aufgefallen, dass es in diesen Zeiten leichter geworden ist, offen über seine Ängste, Sorgen und Befürchtungen zu sprechen. Wahrscheinlich haben wir bemerkt, welch verletzliche Wesen wir eigentlich sind und wie schnell es passieren kann, dass wir die Kontrolle im Grossen Ganzen verlieren. So haben wir einen tieferen Zugang zu unseren eigenen Gefühlen bekommen. Auch hat der Austausch mit meinen Yogafreundinnen gezeigt, wie wertvoll es ist, sich nicht immer hinter einer Fassade zu verstecken. Vielleicht liegt es auch an mir, da ich mit weniger Scham und Scheu die tief inneliegende Verletzlichkeit akzeptieren kann und erkenne, wie kraftvoll und stark es ist, wenn man die eigene Rüstung ablegt.
Auf unserer Yogamatte bauen wir Kraft, Bewusstsein und Vertrauen auf. Ähnlich ist es bei der Verletzlichkeit. Je mehr wir uns entscheiden, in unangenehme Gefühle einzutauchen, desto mehr finden wir, dass dies letztendlich der einzige Weg ist, der uns zu wahrer Freude, Glück und Erfüllung führt. Wir müssen bereit sein, das ganze Leben - die Dunkelheit und das Licht zu erleben. Die Bereitschaft, die eigenen Schatten zu erkennen und zu erforschen erfordert Mut. Denn wie viel einfacher ist es, dem anderen, den Umständen, der Regierung oder einfach der Situation die Schuld zu geben.
„YOU HAVE TO KNOW YOUR SHADOW“ - Aviva Keller
Es geht nicht um die übertriebene Beschäftigung mit dir selbst, der sogenannten Nabelschau. Schattenarbeit heisst, die unliebsamen und deshalb meist verdrängten Persönlichkeitsanteile wieder zurück ins Bewusstsein zu holen. Dann haben wir die Möglichkeit sie anzunehmen und zu integrieren. Schatten aufdecken, annehmen und integrieren führt zu emotionaler Balance und innerer Freiheit. Hört sich das nicht gut an?
Weshalb vermeiden wir unsere Emotionen und verhindern, unsere Sorgen und Ängste mit anderen zu teilen?
Wir lernen schon als Kinder, dass die Gesellschaft ein klares Bild hat, wie man sein sollte. Anders sein und anders denken wurde und wird noch heute nicht unterstützt. Sich verletzlich zeigen ist gleichgesetzt mit schwach sein. Angst vor Ablehnung oder nicht dazu zu gehören sitzt tief. Auch haben wir in der Kindheit nicht gelernt, Zugang zu unserer eigenen Gefühlswelt zu bekommen. Die Zeit war dafür noch nicht reif. Doch nun sind wir herausgefordert, dies im Erwachsenenalter zu üben. Wenn wir lernen, was wir selbst fühlen, können wir uns besser in andere hineinversetzen. Anstatt mit Ablehnung zu reagieren, ist es uns dann besser möglich mit Mitgefühl zu agieren. Hier habe ich ein paar Schatten-Glaubenssätze entdeckt, vielleicht bist du dem einen oder anderen schon begegnet:
Das Schatten- und das Sonnenkind
Die bekannte Psychotherapeutin Stefanie Stahl spricht davon, dass wir fast unerschütterlich an unsere Kindheitserfahrungen glauben. Wir unterschätzen, wie tief diese Programmierung sitzt. Und leider können wir meist auch nicht erkennen, wenn wir mal wieder aus diesen verletzten Anteilen heraus handeln. Sie nutzt die Begriffe Schatten- und Sonnenkind und schon die Namen weisen darauf hin, aus welchem Persönlichkeitsanteil heraus wir gerade handeln. Das Sonnen- und das Schattenkind zeigen uns unsere Kindheitserfahrungen, im Guten wie im Schlechten. Das Schattenkind bezeichnet die ungünstigen Prägungen und Glaubenssätze, die uns eher Schwierigkeiten machen. Belastende Gefühle wie Trauer, Angst und Sorgen, Scham, Hilflosigkeit oder Wut resultieren hieraus und wir entwickeln Schutzstrategien wie zB Rückzug, Harmoniestreben, Angriff und Attacke sowie Macht und Kontrollstreben, die uns dann helfen sollen, mit diesen Gefühlen klarzukommen beziehungsweise sie am besten gar nicht zu spüren.
Das Sonnenkind trägt das Positive und Schöne in uns, also günstige Prägungen und Gefühle und all das, wie wir im Erwachsenenleben unser Dasein neu gestalten können. Dies sind beispielsweise Spontanität, Neugierde, Lebensfreude, Vitalität sowie Kreativität, Urvertrauen und Selbstvertrauen. Sie bilden den intakten Anteil unseres Selbstwertgefühls.
Die innere „Arbeit“ ist nun, die Verletzlichkeit des Schattenkindes zu erkennen und zu integrieren und die positiven Anteile des Sonnenkindes zu stärken. Verletzlichkeit ist ähnlich wie Yoga eine Praxis. Es braucht Engagement und Hingabe, um sich den unangenehmen Momenten in unserem Leben zuzuwenden. So können wir heilen und wachsen und unser höchstes Potenzial ausweiten. Jeder fühlt wahrscheinlich zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeiner Phase seines Lebens mal Schmerz. Unsere auf Erfolg fokussierte und Kontrolle liebende Gesellschaft ist eher darauf ausgerichtet, negative Gefühle zu verdrängen. Diese schleichen sich jedoch gerade dann an anderer Stelle wieder „durch die Hintertüre“ herein. Mit Yoga lerne ich zu reflektieren und bekomme einen besseren Zugang zu meinen inneren Motiven, Gefühlen und Gedanken.
Verletzlichkeit und Offenheit mit Yogastellungen / Asana üben
Insbesondere Rückbeugen sind eine hervorragende Möglichkeit, die Herzöffnung zu kultivieren. Ein physisch offenes Herz führt zu einem emotional offenen Herzen. Du kannst jeden Tag mit einer einfachen Rückbeuge, wie zB der Yogastellung Heuschrecke / Shalabhasana beginnen und dich an stärkere Rückbeugen herantasten. Mit den vorbeugenden Yogastellungen kannst du Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen und Ankommen bei dir selbst kultivieren. Du kannst während deiner gesamten Yogapraxis auch das Gefühl der Verletzlichkeit in deiner Haltung üben. Egal in welcher Yogastellung du dich befindest, versuche dich der Erfahrung hinzugeben, ohne zu versuchen, die Erfahrung zu kontrollieren. Du hoffst also nicht auf ein bestimmtes Ergebnis, sondern lasse die Möglichkeit zu, dass neue, unerwartete Dinge zu dir kommen.
Stärke die Sonnenseite in dir
Verheddere dich nicht in der Spirale der Sorgen und Selbstzweifel. Schreibe dir auf deinen Spiegel im Bad: "Ich bin gut so wie ich bin". So bekommst du gleich am Morgen den Selbstwert-Booster für den Tag. Lege dir ein schönes Büchlein zu, wo du all die Komplimente notierst, die du bekommst. Damit willst du nicht dein Ego aufbauschen, sondern deiner Verunsicherung, die sich manchmal im Leben einstellt, entgegenwirken. Höre auf zu "mauern" und tausche dich offen und ehrlich mit guten Freundinnen, Freunden und Partner aus. Klebe dir an den Computer Post-it Zettelchen mit einem Sankalpa, den du vom Yoga Nidra her kennst. Übe Yoga Nidra und bringe mit leisem Humor Licht ins Dunkel deines Alltags. Hier teile ich noch eine Liste mit positiven Glaubenssätzen mit dir, die du gleichzeitig als Affirmation und Sankalpa im Yoga, beim Yoga Nidra sowie im Alltag nutzen kannst:
Die Upanishaden sind eine Sammlung philosophischer Schriften in Indien und Bestandteil des Veda. In ihnen ist das mystische und religiöse Wissen des alten Indien gesammelt. Dort lesen wir die Anrufung:
Asato Ma Sat Gamaya
Tamaso Ma Jyotir Gamaya
Mrityor Ma Amritam Gamaya
Führe mich von der Unwahrheit zur Wahrheit
Führe mich von der Dunkelheit zum Licht
Führe mich vom Tod zur Unsterblichkeit
Wir nutzen es im Yoga als wunderschönes Shanti Mantra, das uns unterstützt von der Dunkelheit ans Licht zu gelangen. Es schenkt uns Klarheit, vermittelt Zuversicht und spendet die Hoffnung, gut durch unser Leben geleitet zu werden.